Kann Mitmenschlichkeit ein Vergehen sein?
Gestern traf ich eine alte Dame im Park. Wir laufen uns öfter über den Weg, wechseln an paar Worte, ohne uns jedoch näher zu kennen. Schon als sie mich von weitem sah, winkte sie bereits. In ihrer Geste lag etwas Dringliches. Wir grüßten uns, doch noch ehe wir die üblichen Höflichkeitsfloskeln austauschen konnten, sagte sie: „In diesem Jahr werde ich Weihnachten ganz alleine verbringen!“ „Oh“, sagte ich und fühlte echtes Bedauern aufsteigen, „dass tut mir leid.“ „Ja“, sagte sie, „das ist wirklich traurig, aber ich bin ja das Alleinsein gewohnt.“ Sie hielt mitten im Satz inne und während sie sprach, füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Wissen Sie, was wirklich schlimm ist?“ sagte sie und senkte beschämt den Kopf zu Boden. „Wirklich schlimm ist, dass mich seit März niemand mehr angefasst hat!“
Voller Mitgefühl schaute ich auf die kleine alte Frau, auf ihre hängenden Schultern, den gesenkten Kopf und ich spürte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenschnürte. Zaghaft und mit Zweifel in der Stimme fragte ich: „Darf ich Sie mal in den Arm nehmen?“ Zögerlich hob die Frau den Kopf und schaute mich mit ihren tränennassen Augen an, dann nickte sie leicht.
Ich trat einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie legte ihre Arme um meine Hüften, presste ihre Wange an meine Schulter und atmete hörbar aus.
Eine kleine Ewigkeit standen wir da, ohne uns zu rühren. Nicht einmal der scharfe Wind, der auffrischte und den feinen Nieselregen in unsere Gesichter trieb, vermochte uns zu trennen. Es war ein heiliger Moment, der keine Worte brauchte. Nach einiger Zeit lösten wir uns voneinander. Die Dame trat einen Schritt zurück und schaute mir ganz tief in die Augen. „Danke“, sagte sie mit fester Stimme, „das war das Schönste, das ich seit langer Zeit erlebt habe. Vielen Dank!“ „Sehr gerne!“, sagte ich und lächelte still. Mein Herz war ganz weit und leicht, als wir uns einen schönen Tag wünschten und jeder wieder seines Weges ging.
Ich wünsche allen Menschen von Herzen, dass es nicht die Angst, sondern die Liebe ist, die das Erleben prägt und das wir alle das Fest der Liebe nutzen, um uns auf das Wesentliche zu besinnen, auf das, was wirklich zählt, was uns nährt und das Vertrauen ins Leben stärkt.