Eine alte Dame überquert mit ihrem Gehwagen die Straße. Langsam und mit kleinen Schritten kommt sie voran. Ihr Rücken ist gebeugt. Der Nieselregen, der in feinen Fäden unaufhörlich vom Himmel sinkt, hat die beige Jacke, die locker über ihrem dünnen Körper hängt, bereits durchnässt. Ihre Hände sind von der Kälte leicht bläulich verfärbt. Als sie an der gegenüberliegenden Straßenseite ankommt, stößt sie mit einem Rad des Gehwagens unglücklich gegen die hohe Kante des Bordsteins. Der Wagen kippt etwas zu Seite und bringt die alte Frau ins Trudeln. Sie fängt sich, doch der Einkaufsbeutel, der am Lenker baumelt, rutscht ab und landet im regennassen Rinnstein. Ein roter Apfel kullert aus dem Beutel heraus und kommt in einiger Entfernung auf einem Gullideckel zu liegen. Behäbig bückt sich die Alte nach der Tasche. In Zeitlupe hebt sie den verschmutzten und durchnässten Beutel aus dem Rinnstein, schlägt den groben Dreck mit eckigen Bewegungen etwas ab und hängt ihn zurück an den Lenker. Der Regen ist stärker geworden. Entschlossen fasst sie mit beiden Händen die Griffe des Gehwagens, setzt ihn ein kleines Stück zurück und schiebt ihn in Richtung Gullideckel. Sie müht sich, denn der Untergrund am Straßenrand ist uneben. So nah wie möglich fährt sie an den Apfel heran. Ganz langsam senkt sie den runden Rücken hinab. Mit einer Hand stützt sie sich auf dem Wagen ab und versucht mit der anderen den Apfel zu greifen. Vergebens. Langsam richtet sie sich auf. Mühevoll rangiert sie den Gehwagen, um dem Apfel ein Stück näher zu kommen. Wieder beugt sie den alten Leib hinab. Mit den ausgestreckten Fingern der linken Hand streift die sie Frucht, doch anstatt sie zu greifen, schiebt sie sie noch weiter von sich weg. Sie versucht es noch einmal. Doch vergebens. Der Apfel kullert noch ein Stücken von ihr fort. Mühsam richtet sie sich wieder auf. Dann schaut sie sich um.
Der Regen prasselt hörbar auf das Autodach, in dem du im Trocknen und Warmen sitzt und auf die Rückkehr deines Sohnes wartest. Der Motor läuft. Als der Scheibenwischer den Regen beiseite fegt, streifen deine Augen kurz die Augen der Alten. Beschämt schaust du auf dein Smartphone und tust so, als erreiche dich gerade eine wichtige Nachricht. Als du nach einiger Zeit den Kopf hebst, siehst du wie die alte Frau von dannen zockelt. Die Nässe hat das Beige ihrer Jacke in ein nasses Braun verwandelt. Seltsam unberührt verbleibt der rote Apfel an diesem grauen, regnerischen Tag auf dem Gullideckel zurück.
Es war dieselbe alte Frau, die kurz zuvor ein paar Kleinigkeiten im Lebensmittelladen für den täglichen Bedarf einkaufte. Sie trug keine Maske. Kaum hatte sie den Laden betreten, eilte eine Verkäuferin herbei und wies sie harsch auf die Maskenpflicht hin. Sie dürfe hier nicht einkaufen, wenn sie keine Maske trage, sagte sie zu der Alten. Die alte Frau sprach mit leiser, zittriger Stimme und rechtfertigte sich. Sie erzählte, dass sie unter der Maske nur sehr schlecht Luft bekäme und dass sie einige Tage zuvor sogar ohnmächtig geworden und hingefallen sei. Die Verkäuferin machte sich gerade und pochte auf die Vorschriften. Sie fragte nach einem Attest. Die Frau sagte, dass sie erst in der nächsten Woche einen Termin beim Arzt bekommen habe. Die Verkäuferin überlegte und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Ausnahmsweise sagte sie, aber beim nächsten Einkauf müsse sie eine Maske tragen, sonst dürfe sie sie nicht mehr hineinlassen. Schließlich sei es Pflicht, eine Maske zu tragen, um die anderen vor ihr zu schützen. Die Alte nickte schwach, senkte den Kopf und schob mit ihrem Gehwagen Richtung Obstabteilung. Sie spürte die bohrenden Blicke der anderen Kunden und hielt den Kopf gesenkt, während sie durch die Gänge schlich. Die wenigen Dinge, die sie zum Leben benötigte, packte sie in ihren Einkaufbeutel, hängte ihn an den Lenker ihres Gehwagens und ging zur Kasse. Als sie die Kassiererin erreichte, wies auch diese sie noch einmal scharf zurecht. Beim nächsten Mal müsse sie einen Wagen nehmen und unbedingt eine Maske tragen, sonst dürfe sie hier nicht mehr einkaufen. Betreten schaute die Alte zu Boden und schwieg.
Als sie den Laden verlässt, kommt ihr dein Sohn entgegen. Ihre Blicke kreuzen sich kurz. Verständnislos schüttelt er den Kopf, als er der Alten ins nackte Gesicht schaut.
Haben wir das rechte Maß für das Miteinander verloren?
Was bedeutet Solidarität? Solidarität bedeutet Empathie, Mitgefühl und Nächstenliebe. Es bedeutet einen toleranten, respektvollen, differenzierten und achtsamen Umgang miteinander. Es bedeutet für einander einzustehen, sich zu unterstützen und zu helfen, wenn jemand in Not ist. Solidarität beginnt immer bei uns selbst. Wer achtsam und liebevoll mit sich selbst, seinem Körper und seinen Gedanken umgeht, wer Respekt und Achtung vor der Umwelt hat, der ist auch in der Lage, seinen Nächsten zu achten. Aus völligem Selbstverständnis heraus ist er bereit, für einen anderen einzustehen, wenn dieser seiner Hilfe bedarf. Doch niemand darf und sollte für die Gesundheit eines anderen Menschen die Verantwortung aufgebürdet bekommen. Niemand kann einen anderen Menschen davor schützen, sein Leben zu leben, zu erkranken oder gar zu sterben. Wir können uns begleiten, beraten, wir können uns helfen und einander zur Seite stehen, doch wir sollten niemanden zwingen, dass zu tun, von dem wir glauben, dass es das Richtige und einzig Wahre für ihn ist. Wir sollten uns selbst erlauben, die Meinung und Sichtweisen eines anderen zu akzeptieren, genauso wie wir dasselbe von ihm erwarten und wünschen.
Solidarität ist ein Akt der Mitmenschlichkeit, der immer aus freiem Herzen und aus Nächstenliebe, doch niemals aus Zwang oder Pflicht erfolgen sollte.
Wie sollten unsere Kinder verstehen, was Solidarität bedeutet, wenn wir den Sinn von Toleranz, Mitgefühl und Respekt nicht vermitteln? Wie sollen sie erfahren, was Mitmenschlichkeit ist, wenn sie in einem Gegenüber eine Gefahrenquelle sehen? Wie sollen sie Mitgefühl lernen, wenn wir ihnen nicht beibringen, sich selbst zu fühlen und ihnen ein gesundes Miteinander vorleben?